Menschen mit Behinderungen: Arbeit für alle Deklaration von Wien

Die bei der Konferenz „Arbeit für Alle“ verabschiedete Wiener Deklaration bezweckt, Menschen mit Behinderungen bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Konferenz „Arbeit für Alle“. Deklaration vom 27. September 2018 in Wien

Am 27. September 2018 veranstaltete das Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz mit dem Dachverband Berufliche Integration Austria, dem Österreichischen Behindertenrat, dem Europäischen Dachverband der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Behinderungen, dem Europäischen Dachverband für Unterstützte Beschäftigung und der Europäischen Plattform für Rehabilitation in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund die Konferenz „Arbeit für Alle“. Bei der Veranstaltung wurde die Deklaration von Wien verabschiedet. Das politische Maßnahmenpapier verfolgt das Ziel, Menschen mit Behinderungen bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

An der Konferenz im Veranstaltungszentrum „Catamaran“ des Österreichischen Gewerkschaftsbundes nahmen rund 270 Personen teil. Die internationalen Referentinnen und Referenten verwiesen auf die Prinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention, „Inklusion, Teilhabe und Mainstreaming“, und darauf, dass es damit nicht um eine Verbesserung staatlicher Maßnahmen, sondern um eine Veränderung der Gesellschaft im Allgemeinen geht.

UN-Behindertenrechtskonvention3 (UN-BRK)

Die EU selbst und ihre derzeit 28 Mitgliedsstaaten haben alle die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterzeichnet und ratifiziert. Sie haben sich damit selbst verpflichtet, die darin festgelegten Rechte der Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit auf gleicher Grundlage wie andere Menschen ist in Artikel 27 der BRK klar definiert.

Daraus ergibt sich für alle Staaten und die EU die Verpflichtung, Barrieren (auch gesetzliche) aufzufinden und zu beseitigen. Wo das nicht ausreicht, um Teilhabe zu ermöglichen, müssen aktiv unterstützende Maßnahmen gesetzt werden.

UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Fakultativprotokoll Neue deutsche Übersetzung

UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Fakultativprotokoll.

Konferenz „Arbeit für Alle“

Im Hauptvortrag wurde klargestellt, dass sich die nationalen Regierungen und die EU verpflichtet haben, Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderungen zu sichern.

Die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft schließt auch den Arbeitsmarkt ein. Dass die EU mit ihrer Behindertenstrategie 2010–2020 ambitioniert an der Inklusion von Menschen mit Behinderungen arbeiten wollte, mit ihren Zielen aber v. a. aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise scheiterte, wurde im nächsten Beitrag deutlich.

Im zweiten Teil stellten Vertreterinnen und Vertreter aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Irland, Österreich, Slowakei und Spanien vor, welche Rahmenbedingungen in ihren Ländern vorgesehen sind, um Menschen mit
Behinderungen beim Thema Arbeit zu unterstützen, und wie das Land die Rechte aus der UN-BRK von Menschen mit Behinderungen umsetzt.

Erkenntnisse aus den sieben nationalen Beispielen

  • Die Strategien und Maßnahmen sind nicht ambitioniert genug.
  • Eine klare politische Verantwortlichkeit fehlt, insbesondere wenn für Arbeit nationale und regionale Kompetenzen bestehen.
  • Die bereitgestellten Unterstützungen sind nicht umfassend auf Arbeit am ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet.
  • Oft gibt es keine klaren Zielsetzungen und keine Indikatoren. Weiters werden keine Ressourcen zugeordnet sowie keine klaren Zeitrahmen und Verantwortlichkeiten festgelegt.
  • Die Maßnahmen für das Ziel, die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen zu senken, wurden in fast allen Ländern dramatisch verfehlt.Irland bildet hier eine Ausnahme, da in diesem Land die UN-BRK erst 2018 ratifiziert wurde. Seitdem hat das Land beispielhaft eine umfassende Strategie mit zugewiesenen Ressourcen und einem Plan der langfristigen Umsetzung in Gang gesetzt. Konkrete Ergebnisse daraus liegen allerdings noch nicht vor.

Die Deklaration von Wien soll Interessenvertretungen, politischen Entscheidungsträgern in der EU und auf nationaler Ebene, Gewerkschaften und der Wirtschaft Orientierung geben, wie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt erreicht werden kann.

Empfehlungen

Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung haben die veranstaltenden Dachverbände zusammen mit Beiträgen, die in den Workshops von Teilnehmerinnen und Teilnehmern entwickelt wurden, folgende Empfehlungen entwickelt.

Konferenz „Arbeit für Alle“. Deklaration vom 27. September 2018 in Wien

Generelle Empfehlungen

Gemäß Artikel 27 der UN-BRK geht es um Arbeit in einem inklusiven Arbeitsmarkt.

  • Die organisierenden Dachverbände fordern daher die Verantwortlichen auf allen Ebenen, der EU, der Staaten und der Regionen, auf, den Weg für Inklusion am Arbeitsmarkt zu öffnen.
  • Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und beschäftigen Sie dort, wo Sie Verantwortung tragen, selbst Menschen mit Behinderungen (im Parlament, Ministerium, Amt, Ihrem Unternehmen …).
    Gesellschaftliche Vorurteile verhindern in vielen Fällen, dass Menschen mit Behinderungen als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt in Erwägung gezogen werden.
  • Die organisierenden Dachverbände fordern daher dazu auf, in Bewusstseinsbildung zu investieren. Staatliche Kampagnen in TV und Printmedien können viel dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und Neugier zu wecken. Gemäß Artikel 4 der UN-BRK muss die Entwicklung aller Strategien und Maßnahmen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, in enger Zusammenarbeit
    mit Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen erfolgen.
  • Die organisierenden Dachverbände fordern daher die Verantwortlichen auf allen Ebenen auf, ihre Strategien und Maßnahmen zur Inklusion am Arbeitsmarkt in enger Zusammenarbeit mit den die Menschen mit Behinderungen vertretenden Organisationen
    zu entwickeln und durchzuführen.

Menschen mit Behinderungen sind derzeit in beinahe allen europäischen Ländern am Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt. Solange das so ist, müssen besondere Maßnahmen für sie gesetzt werden, damit diese Benachteiligungen ausgeglichen werden können.

  • Die organisierenden Dachverbände fordern daher die Verantwortlichen auf allen Ebenen auf, für Menschen mit Behinderungen neben allgemeinen auch spezielle arbeitsmarktpolitische Ziele zu setzen und mit eigenen Budgetmitteln dotierte Maßnahmen anzubieten, damit ihre Benachteiligung am Arbeitsmarkt ausgeglichen werden kann.

Empfehlungen für die europäischen Institutionen

Die EU hat in ihrer 2020-Strategie als arbeitsmarktpolitisches Ziel festgelegt, dass für Menschen zwischen 20 und 64 Jahren eine allgemeine Beschäftigungsquote von 75 % erreicht werden soll. Wie bereits erwähnt, liegt die Arbeitsmarktbeteiligung von Menschen mit Behinderungen in allen Staaten deutlich darunter.

Aufforderung an die Europäische Kommission,

  • sich verstärkt darum zu bemühen, dass die Mitgliedsstaaten ihre arbeitsmarktpolitischen Ziele für Menschen mit Behinderungen in der Zukunft auch erreichen und sich ihre Beschäftigungsquote der der nichtbehinderten Menschen angleicht.
  • Die Maßnahmen der EU-2020-Strategie werden in einem von der Europäischen Kommission festgelegten Prozess koordiniert: dem Europäischen Semester. Das Europäische Semester ist ein jährlich wiederkehrendes Verfahren und ermöglicht der Europäischen Kommission die frühzeitige Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformentwürfe und die Übermittlung von Verbesserungsvorschlägen, bevor diese von den nationalen Parlamenten beschlossen werden.

Aufforderung an die Europäische Union,

  • arbeitsmarktpolitische Ziele für Menschen mit Behinderungen für alle EU-Mitgliedsstaaten in das reguläre Koordinationssystem des Europäischen Semesters zur Erreichung der Ziele der EU-Strategie aufzunehmen.
  • die Budgetmittel der Europäischen Strukturfonds an die Qualitätskriterien der UN-BRK zu binden und nur mehr Maßnahmen zu fördern, die Arbeit am Arbeitsmarkt und/oder in sozialwirtschaftlichen Unternehmen fördern.

Empfehlungen für nationale Politik und Behörden

Aufforderung an die EU-Mitgliedsstaaten,

  • inklusive Rahmenbedingungen für Menschen jeden Lebensalters anzubieten. Insbesondere das Bildungs- und Ausbildungssystem muss inklusiv angeboten werden.
  • mehr in inklusive Bildung auf allen Ebenen als Voraussetzung für Arbeit zu investieren.
  • einen Zugang zur Arbeit für alle zu schaffen, indem gesetzliche oder finanzielle Hürden wie die der „Arbeitsunfähigkeit“ für Menschen mit Behinderungen beseitigt werden. Der Weg in die Arbeitswelt muss allen Menschen offenstehen
  • die Definitionen von Behinderung in allen relevanten nationalen Gesetzen an den menschenrechtsbasierten Behinderungsbegriff anzupassen.
  • Daten bereitzustellen, auf deren Grundlage Strategien und Aktionspläne entwickelt und überprüft werden können.
  • das Modell der „Unterstützten Beschäftigung“ bedarfsgerecht auszubauen, so wie es vom Europäischer Dachverband für Unterstützte Beschäftigung (EUSE) entwickelt wurde.
  • Behindertenpolitik auf allen Ebenen (national und regional) auf die Schaffung inklusiver Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt abzustimmen und die zuständigen Behörden zu gemeinsamen Zielen zu verpflichten.
  • eine umfassende (für jedes Lebensalter und alle Lebensbereiche), langfristige Strategie für einen inklusiven Arbeitsmarkt zu entwickeln und mit Ressourcen und Meilensteinen sowie klaren Zuständigkeiten zu versehen.
  • alle unterstützenden Maßnahmen (finanziell und personell) auf der Basis von Rechtsansprüchen bereitzustellen.
  • die Implementierung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQF) in nationale Qualifikationssysteme zu beschleunigen. Der EQF erfasst Kompetenzen und Qualifikationen, auch wenn eine formale Qualifikation bislang nicht erreicht werden konnte.
  • Rahmenbedingungen für sozialwirtschaftliche Unternehmen zu schaffen, da sie regionale Probleme lösen und Arbeit auch für am Arbeitsmarkt benachteiligte Personengruppen schaffen.

Empfehlungen für Dienstleistungsanbieterinnen und Dienstleistungsanbieter

Aufforderung an Anbieterinnen und Anbieter sozialer Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen,

  • ihre bestehenden Angebote so weiterzuentwickeln, dass Menschen mit Behinderungen in einem inklusiven Arbeitsumfeld arbeiten können, sozialversichert sind und eine faire Entlohnung entsprechend den nationalen Vereinbarungen wie Kollektivverträge, Tarifverträge … erhalten.
  • diese Angebote in Koproduktion mit allen Interessengruppen, insbesondere mit Menschen mit Behinderungen sowie mit Behörden, zu entwickeln und anzubieten.
  • in verbesserte Zusammenarbeit mit Unternehmerinnen und Unternehmern und der Geschäftswelt zu investieren.
  • die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen in den Fokus zu stellen und eine Abkehr vom defizitorientierten Modell von Behinderung zu vollziehen.

 

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Umsetzung und Nachhaltigkeit dieser Deklaration

Um eine nachhaltige Umsetzung dieser Deklaration sicherzustellen, ersuchen die organisierenden Dachverbände die EU-Institutionen, alle zwei Jahre in einer Konferenz „Arbeit für Alle“ in Zusammenarbeit mit dem Vorsitzland des EU-Rats deren Implementierung zu evaluieren.

Weitere (gesetzliche) Rahmenbedingungen

  • Die Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO Nr. 159 zur beruflichen Rehabilitation und zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen hat das Ziel, sicherzustellen, dass geeignete Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation allen Gruppen von Menschen mit Behinderungen offenstehen und Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefördert werden.
  • Mit dem internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen erkennen die Vertragsstaaten das Recht aller Menschen auf Arbeit und auf gerechte Arbeitsbedingungen an.
  • Mit den nachhaltigen Entwicklungszielen der UN erkennen die Vertragsstaaten u. a. das Recht auf hochwertige Bildung und menschenwürdige Arbeit an.
  • Mit der europäischen Säule der sozialen Rechte haben die Mitgliedsstaaten der EU 20 Grundsätze beschlossen, die in 3 Kategorien eingeordnet sind: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen
    sowie Sozialschutz und soziale Inklusion.
  • Mit der europäischen Behindertenstrategie 2010–2020 setzt die EU Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ihre vollen Rechte wahrzunehmen und uneingeschränkt an der Gesellschaft und der europäischen Wirtschaft teilzuhaben, vor allem im Rahmen des Binnenmarkts.
  • Mit der europäischen Gleichstellungsrichtlinie schuf die EU einen generellen Rahmen für die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen in Beschäftigung und Beruf. Diese Gleichbehandlung musste durch nationale Gesetze umgesetzt werden.

Quelle: Konferenz „Arbeit für Alle“. Deklaration vom 27. September 2018 in Wien