Unsere Kolumnistin Anja Krystyn gibt regelmäßig Einblick in ihren Alltag mit MS. Sie berichtet über psychische, physische und emotionale Hürden und Freuden mit der Krankheit der 1.000 Gesichter.
Starke Kette
Die Stärke einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie sich um ihre schwächsten Mitglieder kümmert. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wird dennoch selten klar angesprochen. Wenn das staatliche Budget knapp wird, wollen manche Politiker den Sparstift bei gemeinnützigen Organisationen oder der steuerlichen Absetzbarkeit von Spenden ansetzen.
Das geht auf Kosten von Menschen, die keine Lobby und keine Rechtsmittel haben, um sich zu wehren. Dass diese finanzschwachen Personen die gleichen Menschenrechte wie Steuerzahler haben, wird gerne von jenen ausgeblendet, die auf der Sonnenseite des Wohlstandes leben.
Macht sich jemand bewusst, dass alte, kranke und sozial schwache Menschen einen wichtigen Teil unserer Gesellschaft bilden? Sie sind die Kehrseite der reichen Medaille, die unser Verantwortungsgefühl herausfordert. Beide Seiten bedingen einander, auch wenn das in der Plus-Minus-Rechnung unserer Effizienz nicht so aussieht. Viele Leute sind überzeugt, dass unser System nur durch materielles Wachstum und Erfolg funktioniert. Dabei kommt jeder Mensch − das heißt wirklich jeder − irgendwann in seinem Leben an einen Punkt, wo er/sie vom Schicksal getroffen, depressiv oder krank wird. Erst dann zeigt sich, wie leistungsfähig, vor allem leistungswillig die Gesellschaft ist, in der man lebt.
Kürzlich besuchte ich eine alte Dame im Pflegeheim. Meine Erwartung eines von trübsinniger, ärmlicher Atmosphäre erfüllten Hauses wurde nicht erfüllt. Ich betrat ein großzügig renoviertes Gebäude mit in fröhlichen Farben gestrichenen Gängen und modern eingerichteten Stationen. Die Zimmer der Bewohner waren mit barrierefreien Bädern und großen Balkonen ausgestattet. Noch erstaunter war ich über die Atmosphäre zwischen den Schwestern, Pflegern und Gehilfen:innen. Es herrschte freundliche, gelassene Stimmung, die sich offenbar auf die Bewohner übertrug. Meine Bekannte war aufgeräumter und fröhlicher, als ich sie früher in ihrem Zuhause erlebt hatte.
Natürlich war mir klar, dass das Personal in Richtung positiver Kommunikation geschult wurde. Das allein konnte es aber nicht sein. Die Atmosphäre im Haus atmete eine Mischung aus Ernsthaftigkeit und der Freude darüber, die Schwäche der anvertrauten Menschen erleichtern zu können. Ich gewann das starke Gefühl, dass dieses Haus zu den Stützen unseres sozialen Friedens gehört.
Es gibt einige solcher Einrichtungen in diesem Land, die, ebenso wie gemeinnützige Organisationen, dank unseres Wohlstandes existieren. Gerne wird übersehen, dass wirtschaftliche Stärke durch ein gutes Miteinander der Menschen entsteht. Emotionale Bindungen bringen neben Produktivität auch die Bereitschaft, einander in schwierigen Situationen beizustehen. Die Spendenfreude in unserem Land zeugt von dieser Haltung.
Es braucht Politiker, die verstehen, dass eine Gesellschaft durch Unterstützung der Schwächeren stark wird. Wenn die Härte des Kapitals und somit Rücksichtslosigkeit die Oberhand gewinnen, wird mit der Zeit die Kette unseres Wohlstandes zerbröseln. Das mag für manche absurd klingen, lässt sich jedoch in der Geschichte immer wieder beobachten.