Geschichte der MS

Erste Berichte über eine Erkrankung, die man heute möglicherweise als Multiple Sklerose bezeichnen würde, reichen mehr als 700 Jahre zurück.

In der Island-Saga von St. Thorlakr wird über die Wikingerfrau Hala berichtet, die am Ende des 13. Jahrhunderts gelebt und an einer rätselhaften Erkrankung mit Blindheit und Sprachstörungen gelitten haben soll. Ihre Beschwerden hätten sich durch Opfergaben und Gebete nach kurzer Zeit zurückgebildet. Vielleicht der erste Bericht über eine schubförmig verlaufende Multiple Sklerose, welche der Nachwelt erhalten geblieben ist. Es sollte aber noch weitere 600 Jahre dauern, bis die Erkrankung einen Namen und damit in gewisser Weise auch eine Identität bekam. (Poser 1995)

Aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist die Lebensgeschichte der Lidwina von Schiedham, die nach einem Unfall im 15. Lebensjahr an einer unbekannten Erkrankung gelitten hat, die in Schüben verlief und sie ab dem 20. Lebensjahr vollständig ans Bett fesselte. Sie wurde aufgrund ihrer mit großer Geduld ertragenen Krankheit von Papst Leo XIII. 1890 heilig gesprochen und wird heute in der katholischen Kirche als Patronin der Kranken verehrt. (

Noch viele weitere Jahrhunderte blieb die Erkrankung unverstanden oder wurde in ihrer Existenz überhaupt in Frage gestellt. So wurde sie beispielsweise vielfach als eine spezielle Form der Syphilis betrachtet. Die Ärzte behandelten ihre Patientinnen nach den jeweils zeitgeistigen Konzepten.

So verbrachte August d’Este (1794-1848), der Cousin der Königin Viktoria von England einen guten Teil seines Lebens in Kuranstalten, die besten Ärzte seiner Zeit verordneten Luft- und Wannenbäder, Bewegungstherapien und spanische Fliege.

In Florenz begann ich an einer eigentümlichen Sehstörung zu leiden. Um den sechsten November nahmen meine Beschwerden derart zu, dass ich alles doppelt sah. Jedes Auge erzeugte sein eigenes Bild. Dr. Kissock vermutete die Galle als Ursache und verordnete mir Aderlässe und Blutegel, auch Abführmittel wurden mir verschrieben. Ich verlor Unmengen an Blut und die Erkrankung meiner Augen besserte sich zunehmend. Ich konnte die Dinge wieder in ihrer einzigartigen Gestalt wahrnehmen und unternahm ausgedehnte Spaziergänge. Aber schon bald überkam mich ein anderes Übel: Ich hatte das Gefühl, dass meine körperlichen Kräfte mit jedem Tag mehr und mehr schwanden. Dazu kam eine eigenartige Taubheit, die meinen Rücken und Schambereich überfiel. Um den 4. Dezember schließlich verließ die Kraft endgültig meine Beine, sodass ich zu Boden fiel und erst durch die Hilfe meines treuen Dieners wieder in der Lage war, mich aufzurichten. Ich verharrte in diesem Zustand für 21 Tage, danach kam die Kraft wieder langsam in die Beine zurück und ich war in der Lage nach Gräfenberg zur Kur abzureisen.

August d’Este, 1827

Auch Heinrich Heine (1797-1856) war von einer solchen Krankheit betroffen, deren Beschwerden plötzlich da waren, häufig aber auf unerklärliche Weise auch wieder verschwanden. Im Alter von 35 Jahren bemerkte er eine Lähmung zweier Finger der linken Hand, die wieder verschwand. Fünf Jahre später traten Sehstörungen an beiden Augen sowie eine Schwäche im linken Arm auf, beides kam und ging in den darauf folgenden Jahren immer wieder. Schließlich verschlechterte sich die Krankheit so sehr, dass er die letzte Zeit seines Lebens in einem Spital verbringen musste, das er selbst in seinen Gedichten als Matratzengruft bezeichnete. Zahlreiche seiner berührendsten Gedichte stammen aus dieser Periode. Obwohl von den besten Ärzten seiner Zeit mit unzähligen Kuraufenthalten, Aderlässen, Morphium und Diäten betan, konnte seiner Erkrankung kein Einhalt geboten werden.

Anfangs wollt ich fast verzagen,
Und ich glaubt, ich trüg es nie;
Und ich hab es doch getragen-
Aber fragt mich nur nicht, wie?

Heinrich Heine

Der französische Arzt Jean-Martin Charcot (1825-1893) prägte den Begriff der „sclérose en plaques“ und erkannte MS als eigenständige Krankheit, nachdem er den Zusammenhang zwischen pathologischen Befunden, die bei Obduktionen gefunden worden waren, und den Symptomen, die von den Betroffenen beschrieben wurden, hergestellt hatte. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er 1868 unter dem Titel „Histologie de la Sclérose en plaques“. Therapieversuche wurden mit Goldchlorid, Zinksulfat, Strichnin, Belladonna, Elektrotherapie und anderen Methoden unternommen.

Im Lauf des 20. Jahrhunderts entwickelten sich zunehmend Theorien über die Ursache der Multiplen Sklerose. Auch etliche Therapieversuche etablierten sich – bis schließlich 1993 Beta-Interferon-1b als das erste nachgewiesen wirksame Medikament auf den Markt kam. Seitdem wurden viele unterschiedliche Therapieformen zugelassen.