Impfung und Multiple Sklerose in Zeiten der COVID-19-Pandemie

Dr. Tobias Monschein, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Wien, Foto: Klaus Ranger

„Gemeinsam und auf die individuelle Situation jedes einzelnen Menschen mit Multipler Sklerose abgestimmt, lässt sich der Weg durch die COVID-19-Pandemie am leichtesten gehen.“ Dr. Tobias Monschein, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Wien, Foto: Klaus Ranger

Infektionskrankheiten bei Menschen mit Multipler Sklerose

Eine Gruppe von Neurologinnen und Neurologen um Tobias Monschein, Hans-Peter Hartung, Tobias Zrzavy, Michael Barnett, Nina Boxberger, Thomas Berger, Jeremy Chataway, Amit Bar-Or, Paulus  Rommer und Uwe Zettl veröffentlichte im Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry eine Abhandlung, in der das Thema „Impfung und Multiple Sklerose in Zeiten der COVID-19-Pandemie“ aus verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet wird. Wir haben diese im Sommer 2021 veröffentlichte Publikation zusammengefasst.

Im 20. Jahrhundert wurden mehrere Pandemien durch verschiedene Influenzavirus-Subtypen verursacht, wobei die Spanische Grippe (1918 bis 1920) die schwerste war. Coronaviren wurden erstmals in den 1960er Jahren beim Menschen beschrieben, seitdem wurden sieben humanpathogene Coronaviren beschrieben. Der erste schwere Ausbruch war 2002 mit dem schweren akuten respiratorischen Syndrom-Coronavirus (SARS-CoV), gefolgt vom Ausbruch des respiratorischen Syndroms im Nahen Osten (MERS-CoV) im Jahr 2012. Die aktuelle COVID-19-Pandemie, die Ende 2019 in Wuhan, China, ausbrach, wurde durch das hoch übertragbare RNA-Virus SARS-CoV-2 verursacht.

Das Risiko, eine Infektion zu bekommen, ist durch das Vorliegen von Multipler Sklerose (MS) bereits grundlegend erhöht. Durch eine krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) und häufige Begleiterkrankungen kann das Infektionsrisiko weiter erhöht werden. Schließlich bergen Infektionen das Risiko einer möglichen Krankheitsprogression bei MS und können so potentiell die Lebenserwartung reduzieren. Derzeit gibt es bei Menschen mit Multipler Sklerose allerdings keine Hinweise auf ein generell erhöhtes Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion oder einen schwereren COVID-19-Verlauf. Vorhersage-Faktoren (prognostische Faktoren) im Zusammenhang mit einer schweren COVID-19-Erkrankung bei Menschen mit Multipler Sklerose sind höheres Alter, ein höherer Grad der Behinderung gemäß der EDSS-Skala sowie ein fortgeschrittener Krankheitsverlauf, Fettleibigkeit, das Herz-Kreislauf-System betreffende Begleiterkrankungen und eine vorherige Behandlung mit Kortikosteroiden (Kortison).

Da eine Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Therapien per se aktuellen Daten zufolge kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines schwereren COVID-19-Verlaufs birgt, empfiehlt die Multiple Sclerosis International Federation (MSIF) Menschen mit Multipler Sklerose, ihre aktuelle krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) fortzusetzen und die allgemeinen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu COVID-19 zu befolgen – sofern von der behandelnden Neurologin bzw. vom behandelnden Neurologen nichts Anderes empfohlen wird.

Es liegen Hinweise vor, dass Interferon-ß möglicherweise sogar mit einer niedrigeren COVID-19-bedingten Krankenhauseinweisungsrate verbunden ist. Dem gegenüberstellend gibt es aber auch Berichte, die auf ein höheres Risiko einer schweren COVID-19-Erkrankung bei Personen hindeuten, die ein B-Zell-depletierendes Medikament wie beispielsweise Ocrelizumab oder Rituximab erhalten. Diese Daten sind vorläufig. Zudem ist zu beachten, dass B-Zell-depletierende Therapien keine pathophysiologische Verbindung mit den kritischen Faktoren für die Entwicklung eines schweren COVID-19-Krankheitsverlauf, dem ARDS und der Hyperkoagulopathie, haben.

Je nach individueller Situation kann bei einer zyklischen Therapie mit Rituximab, Ocrelizumab, Alemtuzumab oder Cladribin eine Verschiebung der nächsten Dosis erwogen werden, da dies eine bessere schützende Impfreaktion ermöglichen könnte.

Alter und Begleiterkrankungen sind für die Abschätzung des Risikos bei Menschen mit MS in Bezug auf COVID-19 wahrscheinlich wichtiger als die Tatsache, ob jemand eine krankheitsmodifizierende Therapie erhält oder nicht.

COVID-19-Impfung und MS

Zahlreiche epidemiologische Studien erbrachten keinen Nachweis für Impfungen als Ursache oder Trigger der MS. Darüber hinaus gibt es keine Hinweise darauf, dass eine Impfung MS-Schübe auslöst – mit Ausnahme von kleinen Fallserien nach Verabreichung von Gelbfieber-Lebendimpfstoffen. Die Typhus-Impfung könnte möglicherweise sogar einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf bei Multipler Sklerose haben. Eine im Juli 2019 veröffentlichteStudie des Teams um Alexander Hapfelmeier legt nahe, dass Impfungen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit verbunden sind, innerhalb der nächsten fünf Jahre an Multipler Sklerose zu erkranken.

Da Infektionen eindeutig ein Schub-/Pseudo-Schub-Risiko und das Risiko für scherwiegende Folgen bergen, ist den Autoren um Monschein zufolge gerade das Impfen von Menschen mit Multipler Sklerose besonders wichtig. Dabei sollte stets eine umfassende Risiko-Nutzen-Abwägung und die Erhebung des Immunstatus der betroffenen Person erfolgen. Darüber hinaus empfehlen die Autoren, potenzielle Gegenanzeigen (Kontraindikationen – vor allem Lebendimpfstoffe betreffend) bei Personen unter einer immununterdrückenden Therapie vorher abzuklären.

Krankheitsmodifizierende Therapien (DMTs) und Impfstoffe

Vor Beginn einer das Immunsystem unterdrückenden (immunsuppressiven) Therapie sollte der Immunisierungsstatus erhoben werden. Inaktivierte Impfstoffe sollten mindestens zwei und Lebendimpfstoffe vier (idealerweise sechs) Wochen vor Beginn einer Immuntherapie verabreicht werden. Gerade auch bei Menschen mit MS sollten Impfungen stets gemäß den lokalen Impfempfehlungen durchgeführt werden. Bei einer Gelbfieberimpfung, die für Reisen in bestimmte Länder obligatorisch ist, muss eine Nutzen-Risiko-Abwägung durchgeführt werden, da durch diese Impfung potenziell ein Schub ausgelöst werden kann.

Bei bestimmten krankheitsmodifizierenden Therapien, etwa B-Zell-depletierenden Therapien, kann es zu einem Konflikt zwischen der Notwendigkeit der Eindämmung der MS-Aktivität und der Notwendigkeit des Schutzes durch Impfungen kommen. So kann es beispielsweise im Fall von Ocrelizumab nicht praktikabel sein, sechs Monate mit der Impfung zu warten.

Eine wesentliche Einschränkung aller bekannten klinischen Impfstudien im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie besteht darin, dass Personen mit Autoimmunerkrankungen unter einer Immuntherapie nicht speziell berücksichtigt wurden. Daher ist das evidenzbasiertes Wissen derzeit begrenzt.

Resümee der Autoren

Um die COVID-19-Pandemie effizient bekämpfen zu können, ist es von größter Bedeutung, die allgemeinen Empfehlungen der WHO zu befolgen und einen schnellstmöglichen Schutz durch eine umfassende Impfung zu erreichen. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose. Daher sollten alle Menschen mit Multipler Sklerose gemäß regionalen Empfehlungen und immer in Abstimmung mit ihrer behandelnden Neurologin bzw. ihrem Neurologen gegen SARS-CoV-2 geimpft werden. Bei zyklischen Therapien (Ocrelizumab, Rituximab, Alemtuzumab, Cladribin) kann je nach individueller Situation (Risikofaktoren, Alter, Krankheitsaktivität und Prognose der MS sowie Lymphozytenzahl) eine Aufschiebung der nächsten Dosis sinnvoll sein. Das Risiko eines Wiederaufflammens von Multipler Sklerose kann das Risiko von COVID-19 bei weitem übersteigen.

Literatur

Tobias Monschein, Hans-Peter Hartung, Tobias Zrzavy, Michael Barnett, Nina Boxberger, Thomas Berger, Jeremy Chataway, Amit Bar-Or, Paulus Stefan Rommer, Uwe K. Zettl: Vaccination and multiple sclerosis in the era of the COVID-19 pandemic. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2021 Aug 5: jnnp-2021-326839. doi: 10.1136/jnnp-2021-326839