Genvariation und Viren als Risikofaktoren für Multiple Sklerose-Entstehung

Etwa jede zweite von Multipler Sklerose (MS) betroffene Person trägt die Genvariation HLA-DR15 in sich. In einer aktuellen Studie konnte geklärt werden, wie diese erbliche Veranlagung im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren zur MS-Entstehung beiträgt. Ausschlaggebend dafür ist die Bildung eines Repertoires von Immunzellen, die einerseits effektiv Krankheitserreger wie beispielsweise das Epstein-Barr-Virus abwehren, aber andererseits das Hirngewebe attackieren.

Labormediziner, Foto: Emin BAYCAN, Unsplash

Die Genvariation HLA-DR15 ist für bis zu 60 Prozent des genetischen Risikos für Multiple Sklerose verantwortlich. Infizieren sich die Trägerinnen und Träger dieses häufigen Gens – etwa ein Viertel der gesunden Bevölkerung ist HLA-DR15-positiv – zusätzlich mit dem Epstein-Barr-Virus und machen eine symptomatische Infektion, das sogenannte Pfeiffer’sche Drüsenfieber, durch, steigt das MS-Risiko noch einmal um das 15-fache. Eine im Fachmagazin Cell veröffentlichte Studie konnte nun klären, wie diese erbliche Veranlagung im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren zur MS-Entwicklung beiträgt. Ausschlaggebend dafür ist die Bildung eines Repertoires von Immunzellen, die zwar effektiv Krankheitserreger wie das Epstein-Barr-Virus abwehren, aber gleichzeitig auch das Hirngewebe angreifen. Es gibt also klare Hinweise dafür, dass das Wechselspiel zwischen HLA-DR15 und Infektionserregern wie Epstein-Barr-Virus für die Entstehung der Erkrankung bedeutsam ist, ohne dass die Mechanismen bisher genau verstanden waren.

Die interdisziplinäre, internationale Studie unter Leitung von Züricher Forschenden zeigt, dass die Immunzellen von Menschen mit HLA-DR15 bestimmte Mikroben wie das Epstein-Barr-Virus sehr effektiv erkennen – doch dass diese Fitness auch eine unerwünschte Immunreaktion gegen das Hirngewebe mit sich bringen kann.

Die Genprodukte von HLA-DR15 steuern die Ausbildung des erworbenen Immunrepertoires, mit dem Krankheitserreger wiedererkannt und bekämpft werden.  Die HLA-DR15-Moleküle sitzen unter anderem an der Oberfläche von weißen Blutkörperchen, wo sie Eiweiß-Bruchstücke von Bakterien, Viren und Körperzellen einfangen und den T- Lymphozyten des Immunsystems präsentieren. So lernen die T-Lymphozyten − die später die Immunreaktion steuern – fremde Proteine von körpereigenem Gewebe zu unterscheiden. Dieses individuelle Training findet zunächst im Thymus und anschließend im Blut statt. Da es viel mehr mögliche Krankheitserreger als T-Lymphozyten gibt, muss jeder T-Lymphozyt auf mehrere Antigene und vermutlich auch Krankheitserreger reagieren können.

Die Forschenden untersuchten nun erstmals, welche Bruchstücke von HLA-DR15 eingefangen und präsentiert werden. Hierzu verwendeten sie zwei neuartige Antikörper, die beide bei MS-Patienten vorkommenden Varianten von HLA-DR15 sehr spezifisch erkennen. Es stellte sich heraus, dass die HLA-DR15-Moleküle im Thymus Bruchstücke von sich selbst präsentieren, was vorher nicht bekannt war. Die so auf die Erkennung von HLA-DR15 trainierten T-Lymphozyten wandern daraufhin in das Blut. Dort lernen sie zusätzlich, Bruchstücke des Epstein-Barr-Virus erkennen, wenn der Träger sich hiermit infiziert. Im Gegensatz zu den HLA-DR15-Bruchstücken wirken die Bruchstücke des Virus sehr viel stärker aktivierend. Dies führt dazu, dass die T-Lymphozyten nicht nur virusinfizierte Zellen in Schach halten, sondern auch in das Gehirn einwandern und dort mit körpereigenen Eiweißen, die bei MS eine Autoimmunreaktion auslösen, reagieren können. Mit dem Epstein-Barr-Virus sind nahezu 100 Prozent der Betroffenen infiziert und es gilt als größter Umweltrisikofaktor für MS. Ebenfalls oft fanden die Forschenden eine Reaktion auf Bruchstücke des Darmbakteriums Akkermansia muciniphila, das bei Menschen mit MS in sehr hoher Zahl vorkommt.

„Der wichtigste genetische Risikofaktor der MS bildet also ein Repertoire von T-Lymphozyten aus, die sehr gut auf bestimmte Infektionserreger wie Epstein-Barr-Virus und Darmbakterien reagiert. Wie die Experimente zeigen, springt diese Gruppe von T-Lymphozyten durch eine Art Kreuzreaktion allerdings auch auf Eiweiße an, die im Gehirn vorkommen. Der Nachteil dieser Fitness ist also, dass die Betroffenen auch anfällig für eine Immunreaktion gegen das Hirngewebe werden, was zu Multipler Sklerose führen kann.
Prof. Roland Martin, Leiter der Abteilung Neuroimmunologie und MS Forschung am Universitätsspital Zürich

Die Ergebnisse der Studie werfen somit erstmals ein Licht darauf, wie die Kombination von genetischer Veranlagung und bestimmten Umweltfaktoren eine Autoimmunerkrankung auslösen kann. Die Forschungsarbeit zeigt Mechanismen auf, die voraussichtlich auch bei einer Reihe anderer Autoimmunerkrankungen eine Rolle spielen. Neben einem besseren Verständnis der Krankheitsgrundlage kann dies auch zur Entwicklung von neuen Therapien führen.

Jian Wang et al.: HLA-DR15 Molecules Jointly Shape an Autoreactive T Cell Repertoire in Multiple Sclerosis. Cell. 21 October 2020. DOI: 10.1016/j.cell.2020.09.054

Quelle: Universität Zürich