MS-Therapien und SARS-CoV-2/COVID-19

Aktuell gibt es keine sicheren Hinweise, dass Immuntherapien mit einem höheren Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion verbunden sind. Bislang verfügbare Daten deuten darauf hin, dass einige sogar vor einer Infektion oder einem schweren COVID-19-Krankheitsverlauf schützen können.

Bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag den Informationsstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am 1. Juni 2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

rotes Rechteck, darauf Coronaviren und Tabletten, die das Wort "COVID-19" bilden, Text: MS-Therapien und SARS-CoV-2_COVID-19

Einschätzung des Risikos für MS-Betroffene

Nach bisherigen Erkenntnissen gibt es Personengruppen, die ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. Bezogen auf Multiple Sklerose sind das folgende Personengruppen:

Ältere Personen

Die Fähigkeit des Immunsystems, sich gegen Infektionen der Lunge u.ä. zu wehren, nimmt ab dem 50./60. Lebensjahr ab. Daher können ältere Personen – unabhängig von einer begleitenden anderen Erkrankung – häufiger Komplikationen der Atemwege haben. Da Fieber im höheren Alter seltener auftritt, kann es länger dauern, bis die Erkrankung festgestellt wird.

Personen mit eingeschränkter Beweglichkeit

Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen oder bettlägerig sind, haben aufgrund der weniger guten Belüftung der Lunge ein erhöhtes Risiko für Atemwegserkrankungen. Da das Corona-Virus Infektionen der Atemwege verursacht, besteht für diese Personen ein erhöhtes Risiko.

Personen mit Medikamenten, die das Immunsystem unterdrücken

Zur Behandlung der MS werden Medikamente eingesetzt, die einen Einfluss auf das Immunsystem haben und die Abwehr gegen Virusinfektionen herabsetzen können. Im Detail bedeutet das folgendes:

Menschen mit Multipler Sklerose ohne immunmodulierende Therapie haben kein erhöhtes Risiko für schwerere Verläufe – es sei denn, es bestehen andere Risikofaktoren wie oben beschrieben (Alter, eingeschränkte Beweglichkeit) oder zusätzliche andere chronische Erkrankungen (z.B. Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, Lungenerkrankungen, …).

Unter Therapie mit einem Interferon-beta Präparat (Avonex®, Rebif®, Plegridy®, Betaferon®, Extavia®) oder mit Glatirameracetat (Copaxone®, Perscleran®) ist von keinem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf auszugehen.

Bei Dimethylfumarat (Tecfidera®) und Teriflunomid (Aubagio®) und normalen Lymphozytenzahlen (weißen Blukörperchen) ist nicht von einem erhöhten Risiko auszugehen.

Unter Therapie mit Fingolimod (Gilenya®) und Siponimod (Mayzent®) besteht ein erhöhtes Risiko für Infektionen der Atemwege. Die Therapie sollte aber dennoch fortgeführt werden, um eine Wiederkehr der Krankheitsaktivität zu verhindern. In diesen Fällen spielt der Schutz vor einer Infektion (siehe unten „Expositionsprophylaxe“) eine ganz besondere Rolle.

Natalizumab (Tysabri®) führt – nach aktueller Einschätzung – nicht zu einem erhöhten Risiko für Atemwegserkrankungen.

Therapien, die die Zahl der verfügbaren Abwehrzellen über die Dauer der Anwendung hinaus reduzieren (Cladribin (Mavenclad®), off-label Rituximab, Ocrelizumab (Ocrevus®), Alemtuzumab (Lemtrada®), Mitoxantron, Cyclophosphamid) erhöhen das Infektionsrisiko besonders in den ersten Wochen nach der Einnahme /Infusion.

Eine Schubtherapie mit hochdosiertem Kortison kann das Infektionsrisiko vorübergehend erhöhen. Inwieweit die Schubtherapie notwendig ist, sollte individuell entschieden werden.

Die Verabreichung bzw. Neueinstellung auf Medikamente, bei denen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf besteht, kann bei entsprechender Nutzen/Risiko-Abwägung verschoben werden.

Nur in Einzelfällen, vor allem wenn mehrere Risikofaktoren (immunsuppressive Therapie, Begleiterkrankungen, Alter, andere besondere Umstände) bestehen, kann eine Therapiepause individuell diskutiert werden. Das individuelle Risiko einer Wiederkehr der Krankheitsaktivität muss hierbei gegen das Infektionsrisiko abgewogen werden. In einer solchen Situation muss besonders Augenmerk auf den Schutz vor einer Infektion („Expositionsprophylaxe“) gelegt werden.

Personen mit MS gehören nach derzeitigem Wissen nicht grundsätzlich einer Risikogruppe an. Zur Einschätzung des Risikos, bei bestehender MS einen schweren Verlauf einer Covid-19-Infektion zu erleiden, werden Alter, Ausmaß der Behinderung, Mobilität, die aktuelle krankheitsmodifizierende Therapie, Begleiterkrankungen und der Arbeitsplatz herangezogen. Dies sind allgemeine Richtlinien, die zur Orientierung dienen. Im Einzelfall muss das individuelle Risiko jeder einzelnen Patientin bzw. jedes einzelnen Patienten durch den behandelnden Neurologen/Neurologin beurteilt werden.

 

Webinar: COVID-19 und Multiple Sklerose

Der Vizepräsident der MS-Gesellschaft Wien, Univ.-Prof. Dr. Fritz Leutmezer, erklärte in einem Webinar, worauf Menschen mit Multipler Sklerose in Bezug auf die COVID-19-Pandemie achten sollen.

Gefahr des Therapieabbruchs größer als Ansteckungsgefahr

Dem Neurologem Univ. Prof. Dr. Christian Enzinger  zufolge liegt die große Gefahr für MS-Betroffene nicht so sehr in einer Ansteckung, sondern im Abbruch einer erfolgreichen Therapie, denn Multiple Sklerose selbst macht Patientinnen und Patienten nicht anfälliger für eine Infektion mit COVID-19.

„Die Patientinnen und Patienten kommen nur mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt in Kontakt. Ein viel größeres Risiko als die Ansteckungsgefahr ist, einen akuten Schub der Erkrankung nicht behandeln zu lassen“, erklärt Enzinger im Interview mit der Kleinen Zeitung. So würden erste Berichte aus Italien und Spanien Anlass bieten, vorsichtig optimistisch zu sein. Dort wurden 250 MS-Patienten, die an COVID-19 erkrankt waren, untersucht. Das Ergebnis: MS-Betroffene, die eine immunwirksame MS-Therapie erhalten, scheinen ein vermindertes Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung zu haben. Das könne daran liegen, dass bei schweren Covid-Verläufen oft die übersteuerte Reaktion des Immunsystems eine Gefahr für den Körper darstellt. Durch MS-Therapien sei das Immunsystem aber gedrosselt, was eine Überreaktion zu vermeiden scheint. „Um dieses Phänomen genau beurteilen zu können, werden noch weitere Daten erhoben“, erklärt Enzinger. Die ursprüngliche Angst vor besonders schweren Verläufen bei MS-Betroffenen scheint vorerst aber entkräftet.

Erste Erfahrungen von MS-Betroffenen mit COVID-19

In ihrem Vortrag anlässlich des Welt-MS-Tages thematisierte die Präsidentin der MS-Gesellschaft Wien, Univ. Prof. Dr. Barbara Kornek, welche Erkenntnisse bereits über an COVID-19 erkrankte MS-Betroffene in anderen Ländern gewonnen wurden und welche Schlussfolgerungen sich daraus für in Österreich lebende Menschen mit MS ableiten lassen.

Literatur

Hung IFN, Lung CK, Yuk-Keung Tso E et al. Triple combination of interferon beta-1b, lopinavir–ritonavir, and ribavirin in the treatment of patients admitted to hospital with COVID-19: an open-label, randomised, phase 2 trial. The Lancet. Published: May 08, 2020. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31042-4
Fingolimod in COVID-19. Clinical Traisl.gov. NCT04280588. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04280588
Infection Risks Among Patients With Multiple Sclerosis Treated With Fingolimod, Natalizumab, Rituximab, and Injectable Therapies. Luna G et al, Jama Neurol 2019 epub 2019.3365

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Kleine Zeitung vom 30. Mai 2020

Corona-Virus schwebt über einer Hand vor weißem Hintergrund, Text: Unsere Blog-Beiträge zum Thema Corona, Credit: Canva