Stammzelltransplantation bei Multipler Sklerose

Der Neustart des Immunsystems mittels hämatopoetischer Stammzelltransplantation (HSCT) ist ein auf Heilung ausgerichtetes, aber risikoreiches Therapieprinzip, das mit starken Nebenwirkungen einhergeht. Die Stammzelltherapie kommt in Deutschland nur in spezialisierten Zentren als „ultima ratio“ zum Einsatz, wenn zuvor durchgeführte Therapien keinen Erfolg zeigten.

PD Dr. Harald Prüß, Neuroimmunologe an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, präsentierte bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Stuttgart neue Daten zur Entwicklung der Therapieoptionen bei Multipler Sklerose (MS).

Priv.-Doz. Dr. Harald Prüß von der Klinik für Neurologie der Charité und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) in Berlin, Foto: Kerstin Huber-Eibl

„Eine verlaufsmodifizierende Therapie unterdrückt offensichtlich erfolgreich die Schübe, kann die Erkrankung jedoch nicht heilen und das Fortschreiten nicht immer verhindern.“ PD Dr. Harald Prüß

Da bei der immunologisch vermittelten Multiplen Sklerose (MS) Zellen des Immunsystems fälschlicherweise körpereigene Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark angreifen, kommt es in weiterer Folge zu Entzündungsherden. Das wesentliche Ziel einer MS-Therapie besteht in der Verhinderung der Krankheits- und Behinderungsprogression. So kann bei der schubförmigen MS mit sogenannten verlaufsmodifizierenden Therapien die Zeit zwischen den Schüben verlängert und die Schwere eines Schubs minimiert werden.

Mittlerweile stehen zum Teil hochwirksame Therapien wie Immunsuppressiva bzw. Immunmodulatoren sowie Antikörper und „small molecules“, die gezielt in die Entzündungskaskade eingreifen, zur Verfügung. Die MS-Progression wird mit verlaufsmodifizierenden Therapien zwar seltener, dennoch kommt es bei mehr als der Hälfte der Personen innerhalb von zehn Jahren zu einer signifikanten Zunahme der Behinderung, wie die prospektiven UCSF-MS-EPIC-Studie [1] zeigt.

Das 14-Jahres-Follow-up der UCSF-MS-EPIC-Kohorte [2] ging der Frage nach, welche Bedeutung klinische MS-Schübe sowie MS-Aktivitätszeichen in der MRT-Bildgebung für die langfristige Behinderungsprogression haben. Die Auswertung zeigte, dass das Auftreten von Schüben zwar deutlich mit einem vorübergehenden Anstieg des Behinderungsgrades, aber nicht mit der endgültigen bzw. langfristigen Behinderungsprogression einherging. Bei einem Drittel der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer mit schubförmiger MS stieg der Grad der Behinderung trotz erfolgreicher Schubprophylaxe an.

Risikoreicher Neustart des Immunsystems

Mit der hämatopoetischen Stammzelltransplantation (HSCT) wird versucht, eine Heilung der Multiplen Sklerose zu erreichen, indem mit einer Art „Neustart“ des Immunsystems sämtliche gegen sich selbst gerichteten „Fehlprogrammierungen“ gelöscht werden. Bei dieser risikoreichen Methode werden den betroffenen Patientinnen und Patienten zuerst blutbildende Stammzellen entnommen, worauf eine Chemotherapie folgt. Mit dieser werden das Knochenmark und damit auch die gewissermaßen „falsch programmierten“ Immunzellen nahezu vollständig zerstört. Im Anschluss werden „gesunde“ Blutstammzellen, die zu Beginn entnommen wurden, dem Körper wieder zugeführt, worauf sich ein neues Immunsystems bildet.

Das Verfahren zeigte sich in früheren Studien als vielversprechend, jedoch auch nebenwirkungs- und risikoreich. Da der Aufbau eines neuen Immunsystems misslingen kann, wodurch die betroffenen Patientinnen und Patienten sämtlichen Erregern schutzlos ausgesetzt sind, wird die Stammzelltransplantation in Deutschland nur als letztmögliche Option eingesetzt. In Österreich wird die Stammzellentransplantation (HSCT) noch nicht angewandt, da sie mit großen Risiken verbunden ist.

Der Vergleich der Wirksamkeit der Stammzelltransplantation mit medikamentösen Therapien im Rahmen einer randomisierten, multizentrischen Studie [3] ergab, dass die Progressionsrate fünf Jahre nach der Stammzelltransplantation 9,7 % betrug – im Gegensatz zu 75,3 % unter der medikamentösen Therapie. Bei der Transplantationsgruppe kamen Rückfälle wesentlich seltener vor, die Lebensqualität war höher und der Behinderungsgrad hatte abgenommen. Laut Prüß war auch das Nebenwirkungsprofil vertretbar: So erreichte die Toxizität maximal Grad 3, es kam auch zu keinen lebensbedrohlichen Ereignissen oder Todesfällen. Neue hochwirksame Medikamente wie Ocrelizumab oder Alemtuzumab waren in dieser Studie noch nicht inkludiert. Außerdem wurden einige Patientinnen und Patienten mit Therapien der weniger wirksamen Basisgruppe behandelt, weshalb die Ergebnisse dieser Studie limitiert waren.

Prüß zufolge geht die Stammzelltherapie in erfahrenen Zentren mit einer relativ geringen Komplikationsrate einher. Es bleibt aber abzuwarten, ob sie die Krankheits- und Behinderungsprogression langfristig und bei unterschiedlich betroffenen Menschen mit Multipler Sklerose verhindern kann. Außerdem ist aus Fallserien klar abzuleiten, dass die hämatopetische Stammzelltransplantation umso besser wirkt, je früher im Krankheitsverlauf sie eingesetzt wird. Damit im Einklang steht eine sehr limitierte Effektivität bei Patientinnen mit progredienter MS.

[1] Montalban X, Arnold DL, Weber MS et al. Placebo-Controlled Trial of an Oral BTK Inhibitor in Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2019 Jun 20; 380 (25): 2406-17
[2] Cree BA, Gourraud PA, Oksenberg JR, et al. Long-term evolution of multiple sclerosis disability in the treatment era. Ann Neurol 2016; 80:499–510
[3] Cree BAC, Hollenbach JA, Bove R et al. UCSF-MS-EPIC Team. Silent progression in disease activity-free relapsing multiple sclerosis. Ann Neurol 2019 May; 85 (5): 653-66
[4] Burt RK, Balabanov R, Burman J et al. Effect of Nonmyeloablative Hematopoietic Stem Cell Transplantation vs Continued Disease-Modifying Therapy on Disease Progression in Patients With Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis: A Randomized Clinical Trial. JAMA 2019; 321 (2): 165-174

Quelle: Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), 27. September 2019, Stuttgart