Kognition und Multiple Sklerose

Bis zu zwei Drittel aller Menschen mit Multipler Sklerose klagen im Verlauf der Erkrankung über Gedächtnisprobleme bzw. kognitive Störungen. Dazu gehören verminderte Aufmerksamkeit, Beeinträchtigungen des Kurzzeitgedächtnisses und Konzentrationsverlust. Durch neuropsychologische Testung kann festgestellt werden, ob es sich tatsächlich um kognitive Probleme durch die MS handelt, oder ob eine Depression die Ursache der Konzentrations- und Gedächtnisstörung ist. Lassen sich die Gedächtnisdefizite objektivieren, können maßgeschneiderte Übungsprogramme helfen, Gedächtnis und Aufmerksamkeit zu trainieren und Defizite auf diesem Weg auszugleichen.

Das Gehirn steuert die Motorik und das vegetative Nervensystem und vollbringt geistige und emotionale Leistungen. Kognitiv sind die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen) bedeutend, darüber hinaus der Schlaf-Wach-Rhythmus und die höheren Hirnleistungen, die fünf Domänen umfassen: Aufmerksamkeit (Arbeitsgedächtnis, Informationsverarbeitung, geteilte und Daueraufmerksamkeit), Gedächtnis (verbal/visuell, Kurz- und Langzeitgedächtnis), Sprache (gesprochen/geschrieben, expressiv und rezeptiv), Exekutivfunktionen (Planen, Sequenzieren, Fehlerkorrektur, Impulskontrolle) und Wahrnehmung (Eigen- und Raumwahrnehmung, Erkennen). Unter dem Sammelbegriff Thymopsyche zusammengefasste emotionale Veränderungen wie Stimmungsschwankungen, Depressionen, bipolare Störungen und Anpassungsstörungen sind Domäne der psychiatrischen Diagnostik.

Kognitive Störungen bei Multipler Sklerose

Obwohl die Hälfte der von Multipler Sklerose betroffenen Menschen kognitive Störungen aufweist, besteht kein direkter Zusammenhang mit der Krankheitsdauer oder dem mittels EDSS festgestellten Grad der Behinderung. Die kognitiven Veränderungen gehen am ehesten mit funktionellen und morphologischen Befunden im MRT des Gehirns einher, wobei klinisch vor allem  sogenannte subkortikale Symptome auftreten, die mit verlangsamter Informationsverarbeitung, reduziertem Arbeitsgedächtnis und Störungen der Exekutivfunktionen einhergehen. Die kognitiven Symptome sind sehr individuell und variieren sowohl von Person zu Person als auch im individuellen Krankheitsverlauf.

Da sich eine relevante kognitive Leistungsminderung bei der Diagnosestellung selten vorhersagen lässt, besteht für Betroffene im Hinblick auf kognitive Fertigkeiten ein enormer Spielraum für die positive Lebensgestaltung.

Kognitive Störungen im Alltag

Menschen mit MS, die von kognitiven Problemen betroffen sind, brauchen für manche Arbeitsschritte oft länger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Oftmals fällt es ihnen schwer, den roten Faden zu behalten – vor allem dann, wenn mehrere Dinge parallel zu erledigen sind. Es kann auch Mühe bereiten, die Arbeit zu organisieren, es kann auch passieren, dass die Betroffenen etwas vergessen. Das Verstehen komplexer Sachverhalte kann schwerfallen, ebenso das Planen und Finden von Alternativen. Darüber hinaus können die Impulskontrolle und Selbstkorrektur (damit ist das Lernen aus Fehlern gemeint) eingeschränkt sein.

Diagnose kognitiver Störungen

Subjektive und objektive kognitive Einbußen werden durch eine Vielzahl an Faktoren beeinflusst. Mithilfe von Screening-Tests und im weiteren durch neuropsychologische Testbatterien können Störungen der höheren Hirnleistungen objekitivert werden. Für Menschen mit Multipler Sklerose stehen insbesondere die Screening-Tests PASAT (paced auditory serial attention test), FST (faces symbol test) und SDT (symbol digit modality test) zur Verfügung. Darüber hinaus kommt als vollständige krankheitsspezifische Testbatterie der Test BICAMS (brief international cognitive assessment for MS) zum Einsatz. Mithilfe klinischer Fragebögen wie HADS (hospital anxiety and depression scale) und BDI (Beck Depression Inventar) können Neuropsycholginnen und Neuropsychologen die Einflüsse der Stimmungslage und Angstsymptomatik evaluieren.

Klinisch bedeutsame Veränderungen der Kognition

Für den Alltag von Menschen mit Multipler Sklerose sind mittels kognitiver Leistungstests gemessene Veränderung nicht unbedingt relevant. Subjektiv erlebte Leistungsminderungen können sich wiederum auf den Alltag auswirken, auch wenn sie mit standardisierten Testmethoden nicht objektivierbar sind. Dieses Paradoxon lässt sich auf die komplexe Methodik zur Messung von höheren Hirnleistungen zurückführen.

Behandlung kognitiver Störungen

Die Basistherapie stellt die Hauptsäule zur Erhaltung der körperlichen und geistigen Funktion bei Menschen mit Multipler Sklerose dar, da diese das Fortschreiten der Erkrankung bremst und die Entzündungsprozesse im zentralen Nervensystem unterdrückt. Für die meisten zugelassenen MS-Basistherapien sind Daten verfügbar, die deren Wirksamkeit bezüglich der Erhaltung der kognitiven Funktionen unterstützen. Spezifische Medikamente zur Steigerung der höheren Hirnleistungen bei Multipler Sklerose stehen derzeit nicht zur Verfügung.

Aufgrund der zahlreichen toxischen Rauchinhaltsstoffe, die bei Multipler Sklerose als „Brandbeschleuniger“ wirken, gilt ein ist ein „Rauch-Stopp“ als wesentlicher Schritt zur Erhaltung der höheren Hirnleistungen. Darüber hinaus sollten andere, für die Kognition schädliche Faktoren wie Alkoholabusus, illegale Drogen, vegane Ernährung ohne Vitaminsupplementierung, Schlaffraktionierung oder allgemeine Inaktivität vermieden werden.

Auch körperliches Ausdauertraining fördert die allgemeine Kondition und wirkt sich positiv auf Gehirndurchblutung und Hirnleistung aus.
Da ein kompetenter und entspannter Umgang mit kognitiven Einschränkungen das Konfliktpotential verringert und das zwischenmenschliche Klima fördert, sind Verständnis und Rücksichtnahme innerhalb der Familie und der sozialen Umgebung von großer Bedeutung.

Kognitive Reserve bei Multipler Sklerose

Es gibt zunehmend Belege, dass Schutzfaktoren Menschen mit Multipler Sklerose vor einem kognitiven Abbau bewahren. So konnte das Team um James F. Sumowski von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai beobachten, dass nicht alle von Multipler Sklerose betroffenen Menschen mit massiver zerebraler Herdlast oder Hirnatrophie eine messbare kognitive Einschränkung erfahren. Die Forschenden gehen davon aus, dass sich dieser Umstand auf das individuell genetisch festgelegte längere Gehirnwachstum als bei der Durchschnittsbevölkerung zurückführen lässt.

Faktoren wie höhere Bildung, soziale Interaktionen, aktive Freizeitbeschäftigungen und Hobbies zählen zu den Schutzfaktoren für den Erhalt der Hirnleistung.